Kinder bei der Flucht und Vertreibung

Zeitzeugenberichte von Walli Richter


Das stumme Leid der Kleinsten

Selten wurde darüber Gesprochen -- nie wurden die toten Säuglinge gezählt, nie die kleinsten Kinder genannt, die Flucht und Vertreibung mit erleiden mussten. Sie konnten nicht einmal registrieren, was um sie herum geschah sie lagen in den Armen ihrer Mütter und wimmerten ihre Anklage leise vor sich hin. Oft hatten die Mütter nicht genug oder keine Milch, um sie zu stillen. Nie bekamen die Mütter Ersatznahrung oder Milch für diese Kinder. Viele Säuglinge verhungerten und starben bei den Todesmärschen der Wilden Vertreibungen im Mai, Juni und Juli 1945 und in den Vertreibungen danach. Sie wurden oft still am Straßenrand begraben oder wurden bei einem Stopp aus den Waggons der Vertreibungszüge gereicht.

Auch in der Zeit nach der Aufnahme in Deutschland litten die Säuglinge still und weinend in den Flüchtlingslagern und Notwohnungen: Es war für die Mütter sehr schwer, Milch und andere für Säuglinge geeignete Nahrung zu bekommen. Die Kinder waren schlecht ausgestattet und konnten kaum gepflegt werden. Viele waren wund und mit Ausschlag behaftet, krank. Und manche Kinder trugen ein Leben lang Behinderungen als Folge der Mangelernährung in jenen Tagen.

Mir wurden als Heimatpflegerin mehrere Schicksale von Betroffenen erzählt. Ich möchte sie hier dokumentieren:


Kindergräber klagen an

Auf dem Friedhof von Waldkirchen bei Waidhofen in Österreich liegen 25. Es sind die Säuglinge, die auf dem Iglauer Todesmarsch in den ersten Junitagen 1945 verhungert sind. Die Mütter trugen die kleinen Leichen mit von Iglau, bis sie nach mehreren Tagen jenseits der Grenze im ersten österreichischen Ort Waldkirchen ihre Kinder am dortigen Friedhof beerdigen konnten. 25 Kinder -- keines war älter als drei Jahre.

Die Sprachinselgemeinschaft der vertriebenen Iglauer trifft sich alle zwei Jahre an Fronleichnam dort, um den Iglauer Todesmarsch zumindest teilweise nachzugehen und die Kindergräber am Friedhof von zu besuchen.


Das Leid einer Frau aus Iglau

Auch S.C. wurde mit einem neugeborenen Säugling zur Teilnahme am Iglauer Todesmarsch im Juni 1945 bei den Wilden Vertreibungen gezwungen. Sie konnte für ihre eigene Verpflegung ein Säckchen gekochter Bohnen mitnehmen. Als sie am Tag nach dem Aufbruch ihr Kind nicht mehr stillen konnte, kaute sie immer wieder ein paar Bohnen und schob den Brei dem Kind in den Mund. Beide erreichten lebend die Grenze. Die Frau erzählte viele Jahre später davon im Kreis von Freunden. Ihr Kind ist durch diese Mangel- oder Fehlernährung geistig schwerst behindert. Als die Mutter erzählte war das Kind mehr als 20 Jahre alt.


Kindesentwendung

Noch vor der Vertreibung hat eine Krankenschwester im Sudetenland unehelich ein Kind geboren. Gegen ihren Willen wurde ihr das Kind unmittelbar nach der Geburt weggenommen und einem Ehepaar übergeben, das keine eigenen Kinder hatte. Das Mädchen wurde von diesen Eltern liebevoll erzogen. Bei der Zusammenstellung des Vertreibungstransportes wurde die Legitimität dieser Annahme an Kindesstatt diskutiert.

Das Mädchen wurde mit den Pflege- bzw. Adoptiveltern in die damals sowjetisch besetzte Zone nach Mitteldeutschland vertrieben. Sie wagte es nicht, sich als Vertriebene zu äußern und Nachforschungen anzustellen. Erst 1990 begann sie die Suche nach ihrer Mutter. Durch Vermittlung von Freunden kam ihre Anfrage zu mir, der Heimatpflegerin der Sudetendeutschen. Mit Hilfe der Heimatortsgemeinschaft konnten wir die Mutter ermitteln. Die Tochter besuchte dann ihr Grab.


Aus dem Nest gefallen

Die Kinder im Vorschulalter litten sehr. Verängstigt erlebten sie die Flucht und Vertreibung, denn sie verloren meist nicht nur ihre geordnete Umgebung. Eingebettet in die fest gefügte Heimatortsgemeinschaft erlebten sie meist Eltern -- zumindest die Mutter, wenn der Vater im Krieg war -- auch Großeltern, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins, Nachbarn und Freunde in allernächster Umgebung. Mit der Flucht und Vertreibung wurden diese Kinder hinauskatapultiert aus der heimatlichen Geborgenheit. Oft verstanden sie nicht, was geschah, aber sie spürten die Angst und die Not ihrer Mütter, auch wenn manchmal Großeltern bzw. Großmütter oder der eine oder andere Verwandte mit ihnen gemeinsam aus der Heimat vertrieben, vielleicht sogar in der Nachbarschaft ansässig wurde.

Diese Kinder hatten auch für sie wertvolle Dinge verloren: Ihr Bett, die Wohnung, das Spielzeug, Bilderbücher, ...
Die Kernfamilie (Vater, Mutter, Kinder, evtl. Großeltern), die in den Nachkriegsjahren im neuen Wohndomizil den Überlebenskampf zu bestehen hatte, konnte nicht immer Ruhe und neue Geborgenheit vermitteln. Mit den Eltern erlebten die Kinder oft Existenzangst, Heimweh, Isolation.


Das hohe Lied für die Mütter

Trotz der eigenen Not haben es viele Mütter und Großmütter in jener Zeit verstanden, Not, Angst und Leid ihrer Kinder zu besänftigen. Viele konnten die Belastungen der Kinder einfach weg erzählen und weg singen. Mit Liedern, Märchen, Spielen und Zuwendung konnten sie ihre Kleinen oft beruhigen und an die neuen Verhältnisse gewöhnen. Manchmal übernahmen das die Großmütter.

Wenn die Ehemänner noch in Krieg und Gefangenschaft waren, dann verschob sich die Rollenverteilung in der Familie: Mütter wurden Familienvorstand und sorgten für Lebensunterhalt, Geld, Verpflegung, Wohnung usw., oft durch volle Berufstätigkeit. Die Großmütter übernahmen den Haushalt und die Betreuung der Kinder. Die Rückführung der Zuständigkeiten auf die traditionelle Rollenverteilung, wenn die Väter zur Familie zurückkamen, war oft schwierig und spannungsgeladen und gelang manchmal gar nicht mehr.

Die Kinder, die vieles spürten und nicht einordnen konnten waren durch diese Entwicklungen im engsten Umfeld verunsichert. Das führte -- besonders bei Einzelkindern -- oft dazu, dass die Kleinen sich besonders eng an ihre Bezugsperson (Mutter, Großmutter) banden und danach nur schwer altersgemäß lösen konnten.


Flüchtlingskinder in Schulen und Gemeinschaften

Es gibt viele Berichte darüber, dass sich Flüchtlingskinder in den Schulen und örtlichen G-meinschaften schnell einfügten. Das gelang offensichtlich in den kleinen Orten und Dörfern und wohl eher bei Buben, die bald zur Bande gehörten. Bei ihren Freizeitspielen konnten sich Flüchtlingskinder vielleicht auch durch den besonderen Ehrgeiz, dazu zu gehören, schnell Achtung verschaffen (Zeitzeuge: Arnulf Streit).

In den Städten gelang das meist schlechter. Das hatte viele Ursachen:
Flüchtlingskinder gehörten zu den örtlichen Gruppierungen vor dem Kriegsende (Vereine, Straßenbanden, Verwandtschaften) einfach nicht dazu. Sie sprachen fremde Dialekte und bemühten sich schnell, die örtlichen Mundarten zu erlernen. Sie lernten sie fast nie. Zwar lernten sie wie alle Menschen Dialektwörter -- die Mundartmelodie und die ihr eigenen Satzstellungen und anderes lernten sie nicht.

Kinder aus einheimischen Familien waren meist trotz aller Not besser gekleidet und besser ausgestattet. Da die Großfamilien oft im gleichen Ort oder in der Nähe lebten, konnte man sich helfen -- auch wenn eine Familie ausgebombt war. Diese Kinder trugen bessere Kleidung, hatten Schulranzen und andere Utensilien und fanden oft durch die Bekanntheit der Eltern leichter in Vereine und Gruppen. Wir Flüchtlingskinder hatten es in Schulen ungleich schwerer. Wir kamen ja aus den Lagern und Notwohnungen recht armselig in die Schule. Wenn sich in der Klasse Läuse oder Krätze oder andere Unbilden jener Zeit verbreiteten, dann wurde immer zuerst auf die da gezeigt, obwohl damals Läuse von allen Kindern eingeschleppt wurden.

So kam es, dass sich zum Beispiel nach meiner Erinnerung eher Flüchtlingskinder mit anderen Flüchtlingskindern zusammenschlossen.


Schulunterricht

Sofort bei Schulbeginn nach dem Krieg wurde der Inhalt der Wissensvermittlung schnell umgestellt:
Im Geschichtsunterricht hörten wir Schulkinder aller Klassen und Schularten sofort nur noch in der Hauptsache die Geschichte der Vereinigten Staaten. Wir mussten die Unabhängigkeitserklärung Nordamerikas in jedem Jahr neu lernen. Auch in Geographie wurde der Schwerpunkt auf die Geographie Amerikas gelegt. Im Deutsch-Unterricht wurde die neuere Literaturgeschichte ab Goethe und Schiller tot geschwiegen. Dafür lehrte man an Beispielen amerikanischer Literatur.

Im Schulsport, auf den großer Wert gelegt wurde, lernten wir neue Sportarten kennen: Baseball, Basketball und andere.


„GYA“

Schnell wurden nach dem Kriegsende in Bayern wir Kinder im Schulalter zu einer Gruppe eingeladen, dem GYA. Es war eine Initiative der amerikanischen Besatzungsbehörde, unter Aufsicht der örtlichen Besatzungsbehörde gestalteten die Zusammenkünfte deutsche Angestellte. Wir gingen zu den sporadischen Zusammenkünften, weil man dort mit Kakao und Kuchen bewirtet wurde, das mitten in der Hungerzeit. Das Programmangebot war sehr eingeschränkt: Wir sahen amerikanische Filme und lernten amerikanische Volkstänze ( Western-Tänze, Square-Tänze ) kennen.

Besonders beliebt war eine neue Veranstaltungsform, das Quiz. Abgefragt wurde Wissen über Amerika und amerikanische Geschichte. Als Preise gab es manchmal Wäsche (Waschlappen, Handtücher) und oft Süßigkeiten aus Armeebeständen (Schokolade, Drops). Der Höhepunkt waren Geldpreise (40 RM, später 40 DM).

In diesen Gruppen war eine neue Gemeinschaftsform sehr revolutionär, sie wurde Co-Education genannt und bedeutete das Zusammensein von Mädchen und Jungen in allen Gruppen -- vor Kriegsende in den deutschen von der HJ dirigierten Jugendgruppen völlig undenkbar.

Die Erlebnisse der gemeinsamen Gemeinschaft setzte sich auch in vielen späteren deutschen Jugendgruppe -- wie der Sudetendeutschen Jugend (SDJ) durch. Dabei waren sexuelle Erlebnisse völlig unbedeutend, ja verpönt. Erst in der Gruppen der Älteren fanden sich Paare zusammen, was oft mit Verlobung und Eheschließung endete.

Bald nach 1945 gründeten sich wieder die kirchlichen Jugendgruppen, wenig später Sportvereine. Ich war eifriges Mitglied in einer Handball-Mannschaft der Spielvereinigung Bayreuth, in der Leichtathletik des Bayreuther Turn- und Sportvereins und des Bayreuther Schwimmvereins. Ich errang trotz schlechter Ernährung und Not mehrere bayerische Meistertitel.


Die Uhr

Als wir 1945 noch im Behelfslager Stadtbad in Bayreuth lebten, begann der Schulunterricht. Ich ging in die 5. Volksschulklasse der Graser - Schule und kam morgens oft zu spät zum Unterricht, denn unsere Familie besaß nur eine Armbanduhr, die der Vater zur Arbeit mitnahm. Ich musste oft 100 x schreiben: Ich darf nicht zu spät zur Schule kommen.
Eine Frau aus den nicht zerbombten Nachbarhäusern beobachtete, wie ich stundenlang meine Strafarbeit auf dem Mäuerchen vor dem Lager schrieb. Als sie erfuhr, was ich da so oft schreiben muss, schenkte sie uns ihre Küchenuhr.

Bis vor wenigen Jahren hing diese alte Uhr erst bei meiner Mutter, dann bei mir, bis ich sie weggeworfen habe.


Mutter näht, strickt, kocht und schreibt Gedichte

Meine Mutter brachte es zur genialen Fertigung von Schulkleidern für mich. Aus zusammen gebettelten Zuckersäcken nähte sie zum Beispiel Röcke und Westen. Dort, wo die Säcke Firmenaufdrucke hatten, stickte sie schöne Ornamente darüber und Blumen. Ich wurde um diese Röcke manchmal beneidet und meine Mutter bekam sogar Bestellungen von anderen.

Als Alt mach Neu, dieses damals oft gebrauchte Wort, führte meine Mutter zur Meisterschaft. Wir sammelten alte Kleider und Stricksachen aus der Verwandtschaft und von Freunden. Schwierig war nur, dass ich in jenen Jahren über das übliche Maß wuchs. Die Kleider, Mäntel und Jacken, die gefunden wurden, waren für mich an Ärmeln und in der Rocklänge zu kurz, denn Schwestern und Cousinen waren bald kleiner, als ich. So kreierte meine Mutter die Stufenkleider, die oft nachgemacht wurden -- Kleider, an die andere Stoffbahnen ein- oder angesetzt wurden.

Durch ihre Handfertigkeit bis zur Erfindung von kunstgewerblichen Gegenständen erwarb meine Mutter in den damals verbreiteten Tauschzentralen viele für uns notwendige Gegenstände. Immer wieder bestellt wurden zum Beispiel die Puppe Bibabo aus alten Strümpfen oder Madam Putzigam, ein Geschenk zum Wohnungseinzug, gefertigt aus einem Gurkenglas mit Kleidern aus Geschirr- und Putztüchern, einem Kopf aus unter Tüchern verborgenen Drahtschwämmen und einem Szepter aus Kochlöffel und Quirl und vielem anderen.

Mutter verdiente auch manche Mark und oft von uns sehr begrüßte Köstlichkeiten, wenn sie zu großen Familienfesten (Hochzeiten, Geburtstagen) als Köchin engagiert wurde. Unter den Flüchtlingen im Barackenlager in Bayreuth, in dem wir lebten, war sie sehr beliebt.

Was reimt sich auf Glück, auf Segen, auf Jubilar oder Braut? Mit hochrotem Kopf saßen meine Mutter und ich am Abend oft in unserer Stube und reimten bestellte Glückwunschgedichte für fremde Leute. Die Ergebnisse unserer Kunst fanden guten Absatz und wurden mit G.R. (Gretel Richter), winzig in die rechte untere Ecke des Glückwunschbriefes gekritzelt, gezeichnet. Ich schrieb auch seitenlang Liedtexte ab, die als Geschenk für Landsleute gerne gekauft wurden (besonders beliebt: Anton Günther-Lieder in Erzgebirgsmundart, zusammengeheftet unter einem Titelblatt Vergaß die Hamit net und eine Sammlung der damals entstehenden Heimwehlieder (zum Beispiel unter dem Titel Landsmann hörst du nicht die Lieder? oder Und wieder ist Notzeit zu tragen, Hohe Tannen weisen die Sterne ... ).


Blick in ein Paradies
Ich war schon Schülerin der Höheren Handelsschule, also sicher so um die 14 Jahre, als ich ein bis heute unvergessenes Erlebnis hatte. Wir wohnten damals noch im Barackenlager in Bayreuth und die aus den Baracken wurden selten oder nie von einheimischen Kindern mit nachhause genommen. Doch einmal -- ich vergesse es nie -- wurde ich von Margit, einer einheimischen Schulfreundin, zum Nachmittagskaffee aus Anlass ihrer Konfirmation eingeladen:

In einer kleinen Wohnung bei sicher einfachen Leuten fand ich einen schön gedeckten Tisch mit Tischdecke, zusammenpassendem Geschirr, Blumen, Gläsern darum eine vollzählige Familie mit vielen Verwandten. Still und bewundernd saß ich dazwischen. So etwas hatte ich seit Jahren nicht gesehen. Es war der Blick in eine heile Welt, den ich nicht vergesse.


Großes Lob für unsere Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen im Lager

In den Aufnahmelagern der Nachkriegszeit in Westdeutschland lebten die Flüchtlinge ja oft wochen- oder monatelang. Unter ihnen waren auch Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen und viele Kinder. Sehr bald begannen diese klugen Frauen die Kinder in der Mitte der Turnhallen und anderswo zusammenzurufen, um mit den Kindern zu singen und kleine Spiele einzuüben. Schon zu ab Weihnachten 1945 gestalteten wir Weihnachtsfeiern in anderen Lagern. Solche Gruppen aus einzelnen Lagern wurden oft fortgeführt, nachdem die Familien aus den Lagern in Notwohnungen umgezogen wurden. So entstanden die ersten Kindergruppen der Vertriebenen in Bayern.


Arbeitslosigkeit

1946 wurde mein Vater durch eine Verwechslung vom CIA interniert und war bis 1948 in den Internierungslagern Natternberg, Hammelburg, Nürnberg-Langwasser und Regensburg interniert. Von der Spruchkammer als Mitläufer eingestuft, hatte er danach noch ein oder zwei Jahre Berufsverbot. Mein Vater hatte also bis 1950 kein Einkommen, meine Mutter auch keines. Zuerst lebten wir von den kleinen Ersparnissen auf den Sparbüchern von uns drei Töchtern, doch das war nicht lange möglich.

Schon zur Währungsreform 1948 musste ein Freund meines Vaters das Geld geben, damit für meine Eltern und für mich 40 Reichsmark in 40 Deutsche Mark umgetauscht werden konnten.

Ab 1950 hat mein Vater eine kleine Arbeitslosenunterstützung bekommen. Das Wirtschaftswunder ging an unserer Familie spurlos vorüber.

Jugendarbeitslosigkeit

In den Jahren nach der Währungsreform 1948 wuchs die Arbeitslosigkeit in der Jugend, besonders der Vertriebenen. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Höheren Handelsschule fand auch ich keine Stelle, war auch ich arbeitslos.


Solidargemeinschaften

Die ersten Freundestreffen

Noch in den Aufnahmelagern und Notwohnungen der ersten Nachkriegszeit fanden viele Freundestreffen von Landsleuten statt. Die Mitglieder der Spielschar der Lehrerbildungsanstalt in Iglau trafen sich zum Beispiel schon 1946 zum erstenmal in einem Flüchtlingslager. Ein oder zwei Jahre später wurde der Iglauer Singkreis begründet, dem bald andere überregionale Spielscharen folgten. Er und die anderen Spielscharen bestehen bis heute mit zunehmenden Mitgliederzahlen.

Auch in unserer Ein-Raum-Wohnung in der Baracke des Lagers an der Hindenburgstraße in Bayreuth trafen sich Freunde und Landsleute aus Oberleutensdorf.

Ich musste dann vor der Küche eines Kasinos der Amerikaner große Büchsen mit Kaffeesatz erbetteln, der schon einmal überbrüht worden war. Mutter überbrühte diesen Kaffeesatz noch einmal. Weil bei uns dadurch immer guten Kaffee gab waren die Treffen bei der Richter Gretel sehr beliebt. Dann saßen die Gäste auf unseren Betten und auf dem Boden und es wurde viel gesungen, gelacht und erzählt. So habe ich viel über meine Heimat und viele Lieder gelernt.


Zum Beispiel der Hilfs- und Kulturverein der Sudetendeutschen in Bayreuth

Schon bald konstituierten sich aus solchen ersten Heimwehgemeinschaften feste Gruppen. Da durch die Besatzungsmächte in Westdeutschland ein Versammlungsverbot erlassen worden war, von dem caritative und kulturelle Gruppen ausgenommen waren, trugen diese Vereinigungen entsprechende Bezeichnungen. In Bayreuth gab sich die Vereinigung der Sudetendeutschen den Namen Hilfs- und Kulturverein der Sudetendeutschen,

Eines der Gründungsmitglieder war mein Vater Franz Richter, das muss vor 1946 gewesen sein, denn seit jenem Jahr war er im Internierungslager. Meine Mutter und wir drei Töchter wurden auch Mitglieder, 1947 wurden uns allen Mitgliedsausweise ausgestellt. 1949, als das Versammlungsverbot aufgehoben worden ist, wurden die meisten dieser ersten Vereine in Sudetendeutschen Landsmannschaft umbenannt und schlossen sich dem Bundesverband der Sudetendeutschen Landsmannschaft an.


Die sudetendeutsche Kindergruppe in Bayreuth

In Bayreuth war eine Kindergruppe unter der Leitung einer Studentin namens Oberndorfer aktiv. In dieser Gruppe waren meines Wissens sehr junge Kinder im Vorschulalter und im Alter der ersten Schulklassen.


Die Sudetendeutsche Jugend (SdJ)

Im Hilfs- und Kulturverein der Sudetendeutschen in Bayreuth wurde eine Jugendgruppe unter dem Namen Sudetendeutsche Jugend (SdJ) Bayreuth gegründet. Meine Schwester Gretel und ich wurden dort Mitglied, unsere Mitgliedsausweise wurden vom Hilfs- und Kulturverein der Sudetendeutschen in Bayreuth 1947 ausgestellt, meiner wurde schon vor langer Zeit über die Sudetendeutsche Jugend dem Sudetendeutschen Archiv übermittelt.

Wir, die SdJ Bayreuth, hatten Kontakte mit mehreren Jugendgruppen im Kreis Bayreuth, in Kulmbach und Bamberg und wir besuchten einander oft mit Fahrradtouren. Manche dieser Gruppen nannten sich nach 1949 (?) kurzzeitig Sudetendeutsche Junglandsmannschaft.

Die Altersspanne der Mitglieder der SdJ war groß: ich war mit einigen, wenigen 13-, 14-jährigen mit Abstand die Jüngste. In den SdJ-Gruppen der ersten Jahre waren Mitglieder bis 30, 35 Jahre, die Leiter dieser Gruppen waren sehr viel älter. Es waren in diesen Gruppen auch oft alleinstehende junge Flüchtlinge, z. B. entlassene junge Soldaten, die nach dem Kriegsabitur sehr jung zur Wehrmacht eingezogen worden waren.

Da die Gruppenleiter -- so wie in der SdJ Bayreuth -- vor der Vertreibung oft in der Sudetendeutschen Singbewegung aktiv gewesen waren, war das Programm dieser Gruppen oft sehr stark vom Singen, Volkstanz und dem Vorlesen aus Büchern sudetendeutscher Autoren (z.B. Wilhelm Pleyer, Bruno Brehm, Bodenreuth, Rothacker und anderen) geprägt. Wir übten auch, um Weihnachtsfeiern, Muttertagsfeiern und damals häufige Veranstaltungen, wie zum Beispiel Maibaumaufstellen und ähnliche bei anderen Flüchtlingsgruppen und in Flüchtlingslagern zu gestalten. Außer ein paar geretteten Büchern hatten wir keine Hilfsmittel. Lieder lernten wir aus den Gedächtnis, ebenso die Volkstänze. Noch Mitte der 1950er Jahre leitete ich Volkstanzabende und ganze Wochenendlehrgänge, indem ich den Teilnehmern die Melodien vorsang und wir dann -- gemeinsam singend -- die Tänze lernten. Zwei Volkstanzlehrer sind mir in besonderer Erinnerung, sie gestalteten regional Volkstanzlehrgänge: Vati Knirsch (Siegfried Knirsch) und Gerhard Rittner. Diese sehr beliebten Lehrer gaben auch die ersten Notensammlungen mit Beschreibungen der Volkstänze heraus.

Nicht nur bei der Programmgestaltung beteiligten sich die SdJler, oft auch bei den Hilfsarbeiten, z.B. bei Bewirtungen zu Weihnachts- und Muttertagsfeiern, bei der Verteilung von Nikolotüten an Kinder bei Weihnachtsfeiern, beim Abzeichenverkauf zu Veranstaltungen und vielem mehr.

Die Ortsgruppen der Sudetendeutschen Landsmannschaft unterstützten ihre Jugendgruppe auch finanziell. Besonders als ich in Dinkelsbühl Gruppenführerin geworden war, bekam ich regelmäßig finanzielle Zuwendungen zu den Reisekosten zu Tagungen und Lagern, zum Heiligenhof.

Ab 1948 trafen sich Gruppenleiter und – mitglieder aus dem ganzen Land Bayern zu Tagungen, im Zeltlager Gaisthal usw. Ich lernte schon bald über meine Schwester, mit der das Ehepaar befreundet war, den Bezirksjugendführer Götz Ohmeyer und seine Frau kennen. Aber diese übergeordnete Instanz der SdJ nahm wenig oder keinen Einfluss auf die Gruppenarbeit.

Ich konnte aus finanziellen Gründen in den ersten Jahren nicht an Tagungen und mehrtägigen Lagern teilnehmen, später auch, weil wir Berufstätigen nur 14 Kalendertage Urlaub bekamen.

Endlich 1951 konnte ich mit der SdJ Bayreuth zum Sudetendeutschen Tag in Ansbach mitfahren. Das war mein erstes großes Erlebnis in der SdJ, von da an war ich in ihr fest verankert.


Die Hilfe der Sudetendeutsche Landsmannschaft

Die Sudetendeutsche Landsmannschaft unterstützte die SdJ sehr großzügig im Bund und auch in den Gruppen. Sie finanzierte im Bund und in der Landesgruppe Bayern zwei bis drei hauptamtliche Kräfte, unterstützte die SdJ beim Sudetendeutschen Tag und bei vielen anderen Veranstaltungen. Bei der Werbung neuer Mitglieder hat uns der Erwachsenenverband wenig helfen können. Wir warben neue und viele Gruppenmitglieder durch den tollen Betrieb, den wir anboten. Damals hatte die Jugend ja kaum Freizeitangebote.

In unsere Gruppen kamen bald nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Kinder aus einheimischen Familien. Meine Dinkelsbühler Gruppen wurden einmal ausgezeichnet als die Ortsgruppe der SdJ in Bayern mit den meisten bayerischen Mitgliedern.


Die Sudetendeutsche Jugend wird selbständig

1951 fand in Dinkelsbühl ein so genanntes SdJ-Führerlager statt. Ich, soeben nach Dinkelsbühl übersiedelt, fuhr nach der Arbeit am Abend immer ins Lager und erlebte die Diskussionen um die Selbständigkeit der SdJ in äußeren Formen und im Erziehungsprogramm mit. Die SdJ-Führung unter Ossi Böse, Isolde Birkholz, Rolf Nitsch und Gretel Hajek setzte sich durch. Die SdJ-Hauptjugendführung (Bundesführung) und die Untergliederungen (Landes- und Bezirksführungen) führten den Jugendverband unabhängig von der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Wir traten 1951 der Deutschen Jugend des Ostens (DJO) bei, die wir in Bayern als Dachverband der Vertriebenen-Jugendverbände betrachteten. In anderen Ländern, besonders in Norddeutschland wurden die DJO-Gruppen von Anfang an als überlandsmannschaftliche Gemeinschaften aufgebaut.

Äußerlich und in ihrem Programm hatte sich die SdJ bis Anfang der 1950er Jahre verändert:

Die Mädchen trugen Dirndel und die Burschen weisse Hemden später graue Hemden und kurze Lederhosen als Kluft. Mit dieser Gemeinschaftskleidung, die bei uns das Zusammengehörig-keitsgefühl sehr stärkten, repräsentierten wir bis in kleinste Orte bewusst die Volksgruppe der Sudetendeutschen, deren Schicksal und Kultur. In allen Gruppen führten wir Altersgruppen ein: mit einer starken Prägung durch die bündischen Erziehungsziele des Wandervogels und durch die musische Erziehungsarbeit (singen, tanzen, werken). Die Altersstufenerziehung der SdJ (Kindergruppen, Jungengruppen, Mädelgruppen, Jugendkreise, Spielscharen war pädagogisch durchdacht. Und wir in den örtlichen SdJ-Gruppen bauten dem entsprechend mehrere Jugendgruppen auf.

Trotz dieser starken Prägung durch außerschulische Erziehungsarbeit mit bündischen und kulturellen Schwerpunkt wurden wir zunehmend als Revanchisten und alte Nazis beschimpft und erfuhren, wie man durch die Medien Meinung manipulieren kann.


Von Dinkelsbühl auf den Heiligenhof und nach München

Dinkelsbühl wurde mir zu eng und die Rechtspflege zu negativ. Ich war schon mit 17 Jahren Protokollführerin beim Straf- und beim Jugendgericht und litt mit den Angeklagten und ihren Familien mit, vor allem mit den betroffenen Kindern.

Als mein Vater sein Geschäft gründete, verzichteten meine Eltern auf meinen Beitrag zur Haushaltsführung. Ich bin bald meinem Wunsch gefolgt, Dinkelsbühl zu verlassen, und wurde Angestellte in der Bundesgeschäftsstelle der Sudetendeutschen Jugend am neu gegründeten Heiligenhof. Ich wurde in der Verwaltung, aber auch in der Betreuung bei Kinder- und Jugendfreizeiten eingesetzt. 1958 wurde ich dann Bundesmädelführerin der Sudetendeutschen Jugend, später auch der Deutschen Jugend des Ostens mit den Aufgabenbereichen Jugendleiterausbildung, Spielscharbetreuung und Mädchenbildung, Organisation von Volkstumsabenden und Jugendlagern.

Mit der Bundesgeschäftsstelle der Sudetendeutschen Jugend übersiedelte ich 1960 nach Mün-chen. Wie von Anfang an vereinbart, befristete ich diese Anstellung bis zu meinem 30. Geburtstag.

München, 30. 08. 2010

  Walli Richter



    Home